hörst du mein heimliches rufen
wieder erste reihe. wie brutal das doch ist bei diesen eher modernen stücken auf den eher kleinen bühnen. jeder schweißtropfen auf der männerstirn, jede delle am frauenbein ausgeleuchtet. erbarmungslos in szene gesetzt fünf großartige schauspieler/innen, deren aufgabe es ist, ihre figuren seelisch und körperlich immer weiter zu entblößen.
neben mir mein lieblingsbegleiter, ein fotograf, der - auch wenn er die kamera in der tasche lässt - alles durch sein objektiv betrachtet und mich durch seine nähe quasi zwingt, es ihm gleichzutun. und ich weiß vom ersten augenblick, dass das zu viel für mich ist. noch ist nur die rede von der weißen feinrippunterhose mit eingriff und dem blutroten flecken, aber ich fürchte schon, dass mir der anblick in den nächsten 100 minuten nicht erspart bleiben wird. was wilhelm eilers uns in seiner rolle noch alles zumutet, ahne ich noch nicht, es liest sich wie das übliche: erfolgreicher geschäftsmann, in der rüstungsindustrie tätig, wird unerwartet entlassen. anzunehmen, dass seine welt (todkranke frau, missratener adoptivsohn, geliebte vom strich an der tschechischen grenze importiert) dadurch aus den fugen gerät.
noch bin ich damit beschäftigt, mir die alte frau anzusehen bzw. nicht wegzuschauen. silvia fenz als todkranke ehefrau, ehemalige tänzerin oder irgendwas in dieser richtung, die sich von einem jungen blonden mann (mathias max hermann, der - wie sich dann herausstellt - den adoptivsohn gibt) ausgelassen, in eindeutig sexuellen posen und in einem geradezu wahnwitzigen tempo im wohnzimmer herumtragen lässt, während ihr mann auf dem sofa liegt und diesem nicht klar ist, ob er schon tot ist oder noch lebt. er hatte die entscheidung getroffen, sich das leben zu nehmen, wird aber von einem engel (georgia stahl), der einzigen "normalen" person in diesem stück, gezwungen, die unerfreulichen stationen seines lebens nochmal als flashback zu durchleben. und diese situationen werden in ihrer ganzen widerlichkeit teils präsentiert, teils geschildert - dies fast noch eindringlicher. und neben und hinter mir die kulturschickeria, die es gewöhnt ist, auf die schauspielerische leistung oder wasweißich zu schauen, die sich jedenfalls nicht ekelt, wenn sabine waibel als die tschechische ex-prostituierte im "teuersten brautkleid der stadt" auf knien sperma erbricht oder sie zusammengekauert im slip und mit an den beinen herunterlaufendem blut von ichweißnichtwieviel ukrainern spricht, die sie damals entführt und vergewaltigt hatten. sodass sie sich, von dem rüstungsfuzzi vor die wahl "tschechische grenze oder schlafzimmer" gestellt, immer wieder mit neckisch-anbiedernder miene für sein ehegemach entscheidet. der eigentlichen ehefrau, die ihn verachtet für die art, wie er sein geld verdient, und dafür, wie er mit frauen umgeht, wird klargemacht, dass sie auch nichts anderes als verachtung verdient. sie habe nichts gelernt, lebe von seinem dreckigen geld und lasse sich, weil sie überhaupt nicht mehr anders könne, von ihm unakzeptable bedingungen des zusammenlebens diktieren. "ach, ich weiß doch, eine beleidigung ist schnell gesagt, aber gell, du meinst das nicht so." doch doch, alles so gemeint, auf der bühne und auch im richtigen leben. nur: wat lernt uns ditte?
am ende gibt sie verklärt auskunft, dass sie geht, dass sie auch in ihrem alter und in ihrem zustand - unfruchtbar und krank - geliebt werden möchte. und ihr traummann soll doch bitteschön einen kleinen schwanz vorweisen können, nicht so ein widerliches großes, schmerzen verursachendes ding. das wiederum kann ihr adoptivsohn, der uns über das stück hinweg immer wieder mit seinen diesbezüglichen komplexen slapstickartig zu erfreuen versucht hat. und was tun sie? genau, sie ziehen gemeinsam los. das kann heiter werden, wie wir ja - siehe oben - schon wissen. ach nee, ganz zu ende isses noch nicht, ein bisschen anspruch muss sein. die drei herrschaften erscheinen in schwarz (eigentlich ganz nett: das gleiche outfit, nur jetzt halt in schwarz). sie sitzen auf dem hinteren sofa. auf dem vorderen "er" mit dem engel, der ihm die pistole hinhält, er möge sich beeilen, damit er noch pünktlich zu seiner eigenen beisetzung erscheint.
premiere/ uraufführung im frankfurter schauspiel am 16.09.2006. regie: tina lanik. der autor: thomas jonigk, geboren 1966, diverse stücke u.ä. geschrieben, auch in andere sprachen übersetzt, schon 1995 zum nachwuchsdramatiker gekürt und jetzt dramaturg am stuttgarter schauspielhaus.
in kürze: ich bin froh, dass mein sohn am freitag (schiller) und nicht am samstag dabei war. was ist denn - von meinem ekel einmal abgesehen - das für eine aussage: die männer verdienen zu viel geld und zwar auf unsaubere art und weise (rüstungs- und sexindustrie) und sind im wesentlichen vergewaltiger oder eben unfähig (wie der arbeitsscheue adoptivsohn). die frauen letztlich prostituierte, in jedem falle sind sie abhängig und werden als ehefrau oder als nutte heruntergewirtschaftet und entsorgt; wenn sie glück haben, kriegen sie dann ihr gnadenbrot bei einem der als unfähig verachteten kleinschwänzigen. tolles weltbild, muss ich mir nicht geben, schon gar nicht auf der bühne. da lobe ich mir die angeblich so verstaubten klassiker.