brecht in der villa clementine
schön war's. und natürlich eine schande, dass ich schon so lange in dieser gegend lebe und gestern zum ersten mal dieses etablissement aufsuchte. ein imposanter bau, dem man überall ansieht, dass er in die jahre gekommen ist. die römisch-pompejanischen stuckdecken ergraut, als würden die räume mit kohleöfen beheizt und/oder draußen die dampfloks vorbeischnaufen. wandverzierungen und holzwerk schreien nach ein bisschen schliff und frischer farbe, dabei war doch alles erst ende der 70er für die buddenbrooks-verfilmung aufs vornehmste hergerichtet worden. die fensterkleider sind wohl auch im zuge der verfilmung angefertigt und vielleicht in diesem sommer frisch gewaschen worden, jedenfalls wirken sie etwas deplaziert, zumal sie den blick durch bogenfenster auf nicht ganz taufrische jalousien und das außen errichtete baugerüst freigeben. ein etwas befremdliches bühnenbild, das so sehr neugier auf ein ungewöhnliches stück macht, dass man orientierungshalber lieber nochmal einen blick ins programm wirft.
nein nein, wir sitzen noch nicht, wir haben nur die einrittskarten in empfang genommen (nix internet, nix vorverkauf: alles muss am abend selbst eine knappe stunde vorher abgeholt werden). im eintrittspreis enthalten ist charmanterweise ein apéritif: sekt oder kir royal. etwas lau, aber hervorragend geeignet, die atmosphäre zu unterstreichen. nun bleibt noch genügend zeit, um mit dem glas in der hand herumzustehen und kronleuchter und andere skurrile gestalten zu bewundern. leute, die man nie in den straßen sieht. ältere menschen, vor allem alte frauen, die sich ansonsten offenbar ganztags in den umliegenden großen bürgerwohnungen aufhalten. für das ereignis frisch blondiert und onduliert, selbstverständlich geschminkt, mit schmuck behängt und in 'entsprechender' abendkleidung. alle mit täschchen, einige mit (dekorativen) gehhilfen, tüchlein und dem oben erwähnten kir royal hantierend. die eine oder andere wird von sohn oder tochter ausgeführt. manche haben auch kavaliere dabei, selbst nicht viel sicherer auf den beinen, aber redlich bemüht, den damen zur hand zu gehen, mal die gehhilfe zu reichen, dann wieder das täschchen zu halten oder auch das glas balancierend. der ganze kram muss nämlich mit, das heißt mit in die vorstellung. und sie kennen sich aus, die plätze sind nicht numeriert, also sollte man sich früh genug in den saal begeben, um einen sitzplatz in einer der vorderen reihen zu ergattern. wir ahnen schlimmstes und nehmen gleich mit der letzten reihe vorlieb. und es kam schlimmer: es wurde gehustet, gehüstelt, mit dem köpfchen geschüttelt oder genickt, mitgemurmelt oder -gesummt, geklatscht, sekt verschüttet, gewischt (vom fußboden den sekt, von der stirne den schweiß) undsoweiter. aber die herrschaften wissen, warum sie da sind: es spricht und singt carmen renate köper, die sie wohl alle aus ihren jüngeren jahren von frankfurter bühnen her kennen. sie selbst hat die texte von und über brecht ausgewählt. bekannte und weniger bekannte, alle von der art, dass brecht sicher selbst gestaunt hätte, wie viele seiten er hatte, auf wie viele arten er herausfordern, überzeugen, anrühren konnte. carmen renate köper: eine tolle schauspielerin und mit ihren sicher fast 70 jahren eine schillernde frau. am flügel der vielleicht halb so alte markus neumeyer, der sie gekonnt improvisierend - mal unterstützend, mal fordernd - durch die soirée begleitete. manchmal auch das etwas strange, z.b. wenn sie für ihr alter vielleicht doch etwas arg lasziv am flügel lehnte. im publikum übrigens auch ihr mann, der schauspieler und regisseur peter eschberg, mit dem zusammen sie im frankfurter holzhausenschlösschen einen literarischen salon veranstaltet.
insgesamt ein dann noch bis in die morgenstunden währender abend in angenehmer, diversen rotweinen und ebensolchen kontroversen nicht abgeneigter gesellschaft.